in Arbeit
Aus aktuellem Anlass fügen
wir an dieser Stelle statt der Chronik eine Abschrift aus dem Brief von
Ernst Moritz Reichel an Baronin Charlotte Speck von Sternburg vom
30.09.1830 an:
Innigstverehrte
Frau Baronin,
Meine gütige Frau
Prinzipalin ,
Voll ist das Herz,
dass gehe der Mund über! Glücklich, glücklich hatte mich schon Ihre
wohlwollende Zuschrift vom 14. des Monats gemacht; doch das Schreiben
Ihres Herrn Gemahls vom 24. hat das Maaß meines Entzückens erfüllt: und
nun weiß ich fürwahr! nicht Worte zu finden, um Ihnen die dankbaren
Empfindungen meines gerührten Herzens auszudrücken.
Um Ihnen nur
wenigstens von meinem guten Willen ein sichtbares Zeichen zu geben, so
will ich Ihnen eine möglichst getreue Darstellung der letzten wichtigsten
Ereignisse aus unserer Sphäre entwerfen, zuvor aber Ihren sehr schätzbaren
Brief von St. Veit dankbar berücksichtigen.
Eine herrliche
Reise haben Sie gemacht, und mit eigenen Augen die Wunder Gottes in der
Natur selbst geschaut, die wir meistentheils nur unvollständig aus
Be-schreibungen kennen. Welche angenehmen Rückerinnerungen wird Ihnen
diese romantische Parthie noch in Zukunft gewähren, wenn Ihre
Reise-Tageblätter Sie im Geiste auf erhabene Gebirgsgipfel oder grausige
Waldschluchten zurückversetzen, welche nicht mehr in Ihren Umgebungen sich
finden! Wie freue ich mich auf noch manchen mündlichen Bericht; und heilig
werde ich die Blümchen aufbewahren, bei deren
Einsammlung Sie der Abwesenden in weiter Entfernung so freundlich
gedachten.
…
und diese Bemerkung
eben führt mich von selbst zu einer sehr ernsten Episode, die Sie nicht
ohne Wehmuth lesen werden, die Sie aber doch vielleicht ebenso ungern
vermissen möchten.
Schon seit dem 12. September – unserm
Ernte-Dankfeste, wo Vormittags P. [Heinrich Onesimus] Friedrich Predigt
und Communion in Hänichen, und ich Nachmittags die Ernte-Predigt in
Lützschena hielt; zugleich dem Geburtstage der Frau Pastor [Johanne
Caroline Erdmuthe] Theile – ward der Patient zusehends schwächer, man
merkte ihm die Beengung der Brust beim Athemholen an, so wie auch Schlaf
und Appetit wegfielen; hoffnungslos aber fand ich ihn selbst erst am
Mittwoch Abend. Als ich ihm das letzte: »Schlafen Sie recht wohl!« beim
Abschiede zurief, erwiederte er: »Die Doctores (Hammer und Cerutti) haben
mir Hoffnung gemacht, aber ich habe nun alle verloren!« Sein Vorgefühl
täuschte leider ihn nicht! Die Nacht über und am Morgen darauf hatten
fieberhafte Zustände mit Phantasien sich eingestellt; da rief er seiner
Bekannten und Freunde Namen mehrmals aus, als ob sie ihn eben besuchten,
und sprach namentlich noch von der ihm einzig noch übrig gebliebenen
Stärkung durch den Wein, den er Ihrer Güte verdankte p. (als ich Ihre
dringenden Anordnungen in Bezug auf fernere Weinsendung las, war aus der
kraftlosen Hülle, welcher sie Labung bereiten sollten, der Geist schon
entflohen; allein mit innigster Rührung vernahmen die Hinterlassenen mit
mir diesen neuen Beweis Ihrer edlen Sorgfalt, die der Entschlafene so oft
mit Recht rühmte) Mittags (am Todes-Donnerstage, dem 16. September) genoß
der Patient noch mit eigener Hand einige Löffel Suppe, suchte auch etwas
leichte Lectüre hervor, legte aber bald wieder sie bei Seite, verlangte
gegen 4 Uhr einmal aus dem Bette gebracht zu werden, athmete, kaum wieder
zurück, noch einige Mal tief, und hörte unvermerkt auf, zu seyn – ein
sanftes Hinüberschweben zum Jenseits, das war sein Tod! Bei demselben war
seine ganze Familie zugegen; kurz darauf brachte mir Herr Lieutnant
Neitsch die Trauerkunde, ich eilte bald hinüber, und aufrichtige Thränen
flossen dem sanftschlummernden, väterlichen Freunde! – Zwar widerstand es
meinem Gefühle, wenige Stunden nach dem Able-ben des theuren Todten schon
um seine vakantgewordene Stelle in dem Schreiben anzuhalten, das ich auch
an zurichten so frei war; indessen hier mußte ich einmal den Umständen
weichen, wie wehe mir es auch that. Denn schon am folgenden Tage kam der
Richter Krell mit der Anfrage zu mir: »ob ich wohl gerne bei ihnen, den
Gemeinden, als ihr künftiger Prediger, bleibe; dann wollten sie, träfe
mein Wunsch mit dem ihrigen zusammen, förmlich und zwar unverzüglich um
mich anhalten (Herr Schulmeister [Johann Carl Gottfried] Oertel hat dieß
Schreiben besorgt.)« Dazu konnte ich allerdings nur ein freudiges Ja von
ganzem Herzen sagen, und durfte nunmehr nicht weiter eine Missdeutung von
Ihnen wegen meiner eiligen Bewerbung fürchten. Unter manchen
Vorbereitungen nahte der Begräbniß-Sonntag. Ich hatte die Frühpredigt in
Lützschena übernommen; aber mit wie ganz anderen Empfindungen, als am
Jubelfeste, betrat ich dießmal die Kanzel, von welcher aus der treue Hirt
nie wieder der Gemeinde das Wort des Lebens verkündigen sollte; wie
schmerzlich ward mir die Pflicht, den bewegten Zuhörern diesen Todesfall
an dieser heiligen Stätte zu melden! Bei meiner Rückkehr ins Trauerhaus
fand ich den lieben Todten in seiner letzten Wohnung, unter Blumen und
Kränzen gebettet, daß kaum der priesterliche Ornat zu sehn war; heiter und
ruhig lag der Entschlafene da, er hatte einen guten Kampf vollendet! Nach
1.Uhr versammelten sich die Trauergenossen – beiderlei Geschlechts, und
sehr zahlreich, wie sich denken ließ; bald kam die Schule mit den andern
beiden Gemeinden an; die Kirchfahrt hatte auf eigene Kosten 8 Thomaner aus
Leipzig in der Kutsche nach Hänichen holen lassen, sie dort beköstigt, und
nun sangen diese am Sarge vor’m Hause, zwischen 2 andern
Gesangbuchliedern, die schöne Arie: »Lebe wohl o mütterliche Erde.«
Feierlich bewegte sich der lange Zug vorwärts in folgender Ordnung: die
Schule und Geistlichkeit (die Pfarrer von Wahren, Rückmarsdorf, Gundorf,
Leutzsch, Dölzig und Schkeuditz, P. Friedrich war abgehalten worden zu
kommen); die Leiche, von Lützschener Einwohnern bis zur Grenze, und von
Quasnitzern weiter bis zu deren Grenze, und endlich von Hänicher
Kirchkindern bis ans Ziel getragen; hierauf die männlichen Anverwandten
und Trauerbegleiter, nach diesen die weiblichen (wohl ists für eine Wittwe
und für Tieftrauernde des andern Geschlechts gewiß eine harte Aufgabe, dem
Sarge des Gatten, des Vaters und Freundes bis zum Grabe zu folgen; doch
das will hier nun einmal die Sitte also, ihr mußten auch des seligen
Pastors Hinterlassenen sich fügen; die Dresdener Tochter Demoiselle
Caroline Theile war nicht zugegen, sie hatte erst Sonnabend Nachmittag die
Todespost empfangen). Als der Zug eben bei der Kirchgasse in Hänichen
ankam, schwiegen Gesang und Geläute, und vom Gottesacker herab ertönte,
von gedämpften Posaunen sanft vorgetragen, die rührende Melodie: »Wie sie
so sanft ruhn«, bis die ganze Prozession in der Kirche angekommen war; –
ein kleines Todtenopfer, das ich selbst dem Heimgegangenen zu bringen mich
gedrungen fühlte, und weßhalb ich mit den Schkeuditzer Stadtmusikern Tage
zuvor Verabredung nahm. Der Sarg ward auf dem Altar niedergesetzt; nach
einem Liede folgte die Predigt nebst Lebenslauf – P. [Gottlob] Herrnsdorf
schilderte die heitre Gemüthsruhe eines treuen Lehrers am Abend seines
Lebens; darauf eine Arie, von Thomanern vorgetragen; der Segensspruch; 2
Verse; die Abdankung, kräftig und herzlich gesprochen von P. [Christian
Wilhelm] Maschner aus Rückmarsdorf, dem ältesten und treuesten Freunde des
Verstorbenen; wieder eine Thomanerarie. Hierauf ward der Sarg zum Grabe
getragen und eingesenkt; am Schlusse eines kurzen Gesangs betrat ich
selbst den Erdhügel am Grabe und rief dem Guten das letzte Lebewohl, den
letzten Dank nach! Es waren schmerzliche Augenblicke der bittersten
Trennung und unzählige Thränen sind damals und dort vergossen worden! –
Ein erhebender Thomaner Gesang beschloß die rührende Todtenfeier, nach
deren Beendigung wir Trauergäste alle noch, bis nach 7 Uhr viele, auch Ihr
Herr Bruder Gustav Haenel von Cronenthall. mit mir, im Pfarrhause
einmüthig bei einander waren. – Der öffentlichen Todesanzeige folgte ein
Nachruf, um dessen Verfassung mich die Gemeinden ersuchten, welche sich
überhaupt bei dieser Gelegenheit allgemeinen Ruhm, und selbst den lauten
Beifall des Herr Superintendent. D. Grossmann erworben haben. Dieser
schrieb nun zu Vacanz-Predigern bis Sonnt. Judica
vor Ostern aus: die Pfarrer von Gundorf,
Leutzsch, Rückmarsdorf, Eutritzsch, Großwiederritzsch, Wahren; für die
Reformations- Kirchmeß- und Bußtagspredigten die Preußischen Geistlichen:
P. Friedrich aus Freiroda und Diac Martins von Schkeuditz, und für mehrere
Festtage (wie gestern, Michaelisfest mit 2 Predigten, ferner d.
3e.Weihnachtsfeiertag., der Neujahrstag p. auch mich.-
…
Meine heißesten
Wünsche begleiten Sie und alle Ihre treuen Lieben auf Ihren weiteren
Wegen: Gott führe Sie alle bald recht glücklich zu uns zurück! –
Ernst Moritz
Reichel.