500 Jahre Annenglocke der Schloßkirche
In diesem Jahr kann die Annenglocke
der Schloßkirche ihren
500. Geburtstag feiern. Den genauen Gusstermin
wissen
wir trotz intensiver Nachforschung leider nicht. Da
Glocken
jedoch traditionell an einem Freitagnachmittag - zur
Sterbestunde
Christi - gegossen werden, kann der „Geburtstag“
zumindest von 365 auf
52 Tage eingegrenzt werden. Sicher ist
hingegen, dass sie Generationen
von Lützschenaern bei
Freud und Leid, bei Taufen, Trauungen, aber auch
bei
Feuersbrünsten, in Kriegen oder wenn sie Angehörige
zu Grabe
trugen und natürlich auch zu den werktäglichen
Gebetszeiten um 7, 12
und 18 Uhr begleitete.
Heutzutage ist jedoch meist in Vergessenheit
geraten, dass sie diese Aufgaben überwiegend
nicht allein, sondern mit
zwei weiteren Glocken
erfüllte. Der erste Hinweis darauf findet
sich
in den Visitationsprotokollen von 1544,
in denen „2 Glocken offen Torm
und 1 offen
Kirchoffe“ verzeichnet sind. Detailliertere
Angaben
finden sich dann 1844 in Sachsens
Kirchen-Galerie. Der Beitrag wurde
von
Pfarrer Ernst Moritz Reichel verfasst, und
er beschreibt das
Geläut wie folgt: Die
„… 3 Glocken schlagen kräftig und
melodisch
zusammen, ihre größte
ist: Anno D. M.D.XIX ? ‚Hilf,
Sancta Alma,‘
die mittlere: ‚Verbum
Domini manet in aeternum.
M.D.LXXIV.? Joh.
Schreyer - Hans
Behem - Hans Queisner‘ umschrieben, die
kleine hat
weder Inschrift noch andere Zeichen“. Alle drei
Glocken befanden sich
damals im Turm, der als achteckiger
Dachreiter ausgeführt war. Bzgl.
der Inschrift auf der großen
Glocke muss man Pfarrer Reichel die
beengten Verhältnisse im
Turm und die Schreibkünste des Gießers
zugutehalten, der sich
aus vielen „i“s die einzelnen Buchstaben
zusammenbaute. Sowohl
Cornelius Gurlitt (1894) als auch modernere
Forschungen
und Autoren gehen jetzt von der Inschrift „ANNO D(OMI)
NI 1519 HILF SANCTA ANNA“ und damit von einer
Annenglocke aus. 1851
erhält die Kirchgemeinde Lützschena
mit dem Tod von Hermann Speck von
Sternburg, des ältesten
Sohnes der Patronatsherrschaft, mehrere Legate,
die zum Bau
eines Kirchturmes, zur Anschaffung einer Uhr sowie von ein
bis zwei neuen Glocken bestimmt sind. Dieses Projekt wird
1855
umgesetzt, wobei die große Glocke erhalten bleibt, die
mittlere
umgegossen wird und die kleine gegen Erstattung des
Materialwerts vom
Baron übernommen und dafür eine neue
Glocke gegossen wird. Der
Glockenumguss und Neuguss
erfolgt bei G. A. Jauck in Leipzig. Inschrift
mittlere Glocke:
„VERBUM DOMINI MANET IN AETERNUM MDLXXIV,
JOHANNES
SCHREYER, PFARRER, HANS BEHAN,
HANS QUEISNER, CASPAR KRAMER,
KIRCHVETER.
GEORGIUS TISMEIER HAD MICGEGOSSEN ZU
LEIPZIGK IM 74.
JAHRE.“ und „CAPANAM HAUC JAM
PRIDEM MEDIAM FUDIT CONSONAM G. A. JAUCK
LIPSIENSIS ANO MDCCCLV SUPTU LEGATORIO JUVENIS
NOBILIS HERMANNI BARONIS
DE STERNBURG
LÜTZSCHENA ANNO AETATIS XXXVII DEFUNCTI,
CUIUS
SYMBOLUM: JUSTUS ET CONSTANS“
(Übersetzung: „Das Wort des Herrn
bleibt in Ewigkeit 1574
Johannes Schreyer, Pfarrer, Hans Behan, Hans
Queisner, Caspar
Kramer, Kirchvetter, Georgius Tismeier had mich
gegossen
zu Leipzigk im 74. Jahre.“ und „Diese mittlere Glocke hat der
Leipziger G.A. Jauck schon im Jahre 1855 vor kurzem klanglich
passend
auf Kosten des mit 37 Lebensjahren verstorbenen edlen
Baron Hermann von
Sternburg Lützschena gegossen, dessen
Leitspruch >>Gerecht und
Beharrlich<< lautete“) Inschrift kleine
Glocke: „GLÖCKLEIN VOLLENDE
SPÄT UND FRÜH
DER ANDERN GLOCKEN HARMONIE. 1855“ Zum
Reformationsfest 1855 wurden diese Glocken aus
Leipzig abgeholt, mit
der Annenglocke zusammen
auf dem Schlosshof präsentiert und am
Nachmittag
auf den Turm gezogen, und ein Stündchen später
notierte
Pfarrer Reichel, ergriffen in sein Bautagebuch:
„... das erste
harmonische Geläut
rief mir und wohl auch manchem Thränen
der
freudigsten Rührung ins Auge“. Zu einer
großen Zäsur kam es dann im 20.
Jahrhundert.
Anfang März 1917 wurden alle
Bronzeglocken
beschlagnahmt, um sie dem
Reichsmilitärfiskus zuzuführen. Dazu mussten
alle Glocken in Formularen erfasst und
damit in bestimmte Kategorien
eingeteilt
werden. Während sich Hänichen mit der
Begründung zu hoher
Ausbaukosten
der Ablieferung entziehen konnte,
sollte in Lützschena
nur die
kleinste als Läuteglocke erhalten
bleiben. Die Annenglocke
und
die mittlere Glocke wurden im
Juli 1917 vom Turm genommen,
doch durch den Einsatz des Kirchenvorstandes
mit Hilfe eines Gutachtens
des Architekten Richard
Bauer aus Leipzig, konnte die Ablieferung der
Annenglocke
verhindert werden. Zum Glück blieb die mittlere Glocke im
Depot auf dem Gelände der Bugra und wurde nicht zu Rüstungszwecken
eingeschmolzen. Von dort kam sie im Juni 1919
zurück und wurde „zu
Ehren der heimkehrenden Kriegsgefangenen“
geläutet. So glimpflich
verlief dann die Beschlagnahmung
der Glocken im 2. Weltkrieg leider
nicht ab. Da sich
die Kirchgemeinden Lützschena und Hänichen 1934 - dem
Vorbild der politischen Gemeinden folgend - vereinigt hatten,
stand
beiden Kirchen nur noch eine einzige Läuteglocke zu.
Alle anderen
Glocken mussten abgeliefert werden, und sie wurden
zentral auf dem
sogenannten Glockenfriedhof in Hamburg
gelagert. Groß angelegte
Suchaktionen, die bis zum Beginn der
1970er Jahre andauerten, brachten
jedoch keinen Erfolg. Somit
läutet die Annenglocke seit über 75 Jahren
allein. Am 1. Advent
1970 wurde die elektrische Läuteanlage in Betrieb
genommen.
Seitdem ist sie neben dem gebets- und gottesdienstlichen
Läuten
auch für den Stundenschlag zuständig. Vielleicht findet sich
einmal ein günstiger Umstand oder ein spendabler Glockenfreund,
um die
Annenglocke von ihren vielfältigen Aufgaben zu
entlasten und das
„harmonische Geläut“ wieder zu vervollständigen.
Wer die Annenglocke
beim Läuten sehen möchte, kann
dies in einem 360°-Video über folgenden
Link: https:// youtu.be/QGpUN8-XSW8
bzw. über
untenstehenden QR-Code erleben.
Steffen Berlich