Kennen Sie noch Bahngarn?

„Heim ins Reich!“ – das war das Schlagwort, mit dem die Nazis ihre Besetzung von Österreich und dem Sudetenland in der Tschechoslowakei beschönigten. Und heim ins Reich ist er gekommen, nämlich der Krieg, der von Deutschland ausging. Zuerst waren es die Luftangriffe auf deutsche Städte, welche die Deutschen das Fürchten lehrten noch bevor es zu Gefechten der Bodentruppen kam. So gab es Bombenangriffe auf Leipzig am 27. März und am 4. Dezember 1943. Die Siebel-Werke in Schkeuditz – der spätere VEB MAB Schkeuditz – waren am 27. Februar 1945 Ziel eines Luftangriffs, bei dem einige Häuser im Norden der Stadt beschädigt oder zerstört wurden (Enke-Block in der Berliner Straße). Auf dem dortigen Flugplatz wurden 70 Flugzeuge am Boden vernichtet.

Die Einschläge kamen nun immer näher – am 10. April 1945, also kurz vor dem 18. April, als die 69. Infanteriedivision der 1. US-Armee Leipzig besetzte, wurde der Rangierbahnhof in Wahren mit Bordkano-nen und Bomben angegriffen. Gegen 21:45 Uhr gab es Alarm und wenig später wurden Gebäude zerstört, die Gleise ruiniert, Güterwagen und Lokomotiven umgeworfen, Brände entstanden und Munition explodierte. Noch lange danach detonierten Bomben mit Zeitzündern.
Schon am nächsten Tag machten sich die Menschen auf, um in den noch rauchenden Trüm-mern nach Brauchbarem zu suchen. Es wurde ja auch ein Güterzug mit Nachschub für die Luftwaffe getroffen. Eine große Menschenmenge mit Taschen, Rucksäcken oder Handwagen bewegte sich in Richtung Bahn oder von dort zurück. Schließlich gingen meine Mutter, eine Tante und mein Cousin zu dem Rangierbahnhof. Ihre Beute, die sie von dort mitbrachten, das waren Stalllaternen, Lötlampen, Moskitonetze und Fallschirmseide. Das waren insofern nützliche Dinge, da sie sich gut für den Tausch gegen Lebensmittel bei den Bauern eigneten.

Als besonders wertvoll erwiesen sich schließlich einige Rollen „Bahngarn“, welche sie von ihren Plünderungen mitbrachten. Es zeigte sich nämlich, dass es hervorragend geeignet war, damit Häkelarbeiten anzufertigen. Abends saßen also meine Mutter, die Tante und vor allem meine Großmutter über diese Handarbeit gebeugt und stellten Dinge her, die für Tausch-geschäfte eingesetzt wurden. Häkelten unsere Mutter und die Tante nur kleinere Stücke – sie hatten schließlich wenig Zeit für diese Arbeit – schuf die Großmutter Tischdecken, die für die damals üblichen Rauchtische gedacht waren und einen Durchmesser von mehr als 1 m hatten. Wenn man sich vorstellt, was das für eine furchtbare Knaupelei war, und das mitunter bei Kerzenlicht! Heute besitze ich ein kleines Deckchen, das einen Durchmesser von 25 cm hat und von unserer Oma gehäkelt wurde.

Horst Pawlitzky