HISTORISCHES
von Prof. Dr. Gerhard Graf, Leipzig
Kirchengebäude und ihre Ausstattung sind
das sichtbare Gedächtnis der Christenheit. In den zu unseren Gemeinden
gehörenden Kirchengebäuden blicken wir dabei teilweise auf eine mehr als
achthundert Jahre alte Tradition zurück. Im Folgenden werden solche Zeugnisse
vorgestellt, die christliches Leben im geschichtlichen Wandel zeigen und damit
nicht zuletzt auch unseren persönlichen Standort in Glaubensdingen befragen. Die
Lützschenaer Kirchen bieten eine Fülle solcher Zeugnisse.
Im südlichen Teil der Kirche hinter der
Glasabtrennung befindet sich an der Ostwand eine eingemauerte steinerne Grabplatte
(47 x 78 cm). Auf ihr ist im Halbrelief ein Mädchen im Vorschulalter
abgebildet. Bis zum Kirchenumbau 1906 lag die Platte im Fußboden zwischen Altar
und Kanzel. Der Blick des Kindes war zum Altar beziehungsweise nach Osten
gerichtet. Durch diesen Platz erklären sich zugleich die Abnutzungsspuren und
Beschädigungen, die der Grabstein heute aufweist. Betroffen davon ist auch die
umlaufende, nicht immer leicht zu entziffernde Inschrift. Links oben beginnend
– die Buchstaben sind zum Teil zusammengezogen – ist außen im Uhrzeigersinn zu
lesen IHM / IAHR / 1599 / DEN // 28. IVLII / IST / IN / GOT / ENTSCHLA // FEN /
REGINA / HART // ENBERG / HERN / LAVRENTII / HARTE // [und nun innen:] NBE
/ RG // TOC / HTE // RLE / IN // WEL /
CHER // GO / TT // GEN / ADE.
Nicht mitgeteilt ist auf dem Grabstein
das Alter der kleinen Regina. Nach dem Gesamteindruck wird man an ein Kleinkind
denken. Überraschenden Aufschluss gibt jedoch ein zusätzliches Epitaph, das bis
wenigstens 1906 ebenfalls in der Kirche zu sehen war. Es bestand aus Holz und
zeigte das Bild: Christus als Hirte unter seinen Schafen. Beigefügt waren drei
unterschiedliche Texte. Zunächst: „Anno 1599, 28. Julii † Regina Hartenbergs
Töchterlein 11 Monate 18 Tag alt.“ Anschließend ein lateinischer Doppelvers
(Distichon): „SIC LVX nostra perIs nos o regInVLa LInqVIs / LInqVIs at In LVCV
te bona MILLe beant“. Die ungewohnten Großbuchstaben sind als römische
Zahlenwerte eingesetzt und ergeben als Summe das Jahr 1599 (Chronostichon). Und
schließlich in freier Übersetzung des lateinischen Textes wiederum ein
Zweizeiler: „Zartes licht Reginelein lescht [löschst] uns so aus, zeuchst von
uns Heim / Zu ewige freudt und selikeit, lest [lässt] uns in laidt undt
Traurigkeitt“.
Die Mitteilung auf dem Holzepitaph macht
klar, dass die bildliche Darstellung auf dem Kindergrabstein, was das
Lebensalter angeht, nicht zutrifft. Vielmehr wird dort in der Art eines
Auftragswerkes auf ein Schema zurückgegriffen, das vom Bildhauer im Geschmack
der Zeit ausgeführt wurde, nämlich dass auch in einem Kinderbildnis bereits das
Hineinwachsen in die später wahrzunehmende gesellschaftliche Rolle festgehalten
wird. Das bezeugt als Stilmittel das noch offene lange Haar, Sinnbild der
Mädchenzeit, ehe man schließlich unter die Haube kommt. Und ebenso typisch ist
– jetzt fast nicht mehr zu erkennen – der grüne Kranz auf dem Haar, der die
jugendliche Unschuld und eine noch ungeteilte irdische Liebe zu Christus betont
und sich bis heute erhalten hat als Sinnzeichen im Schmuck der
Blumenstreukinder und auch in dem der Braut.
Auffällig ist an dem Grabstein das Maß
einer sich vermischenden Repräsentation: Einerseits wird in Demut und Trauer
die Tochter der Gnade Gottes anbefohlen, andererseits sollte es aber auch ein
ordentliches, ein standesgemäßes Begräbnis sein. Deshalb der anspruchsvolle
Stein, nochmals ergänzt durch eine erklärende Tafel, und dazu der bevorzugte
Platz im Altarraum, sonst Begräbnisort der Pfarrer und Kirchenpatrone. Ein noch
deutlicheres Beispiel als das in der Hainkirche findet sich aus dem Jahr 1570
in der Apostelkirche von Leipzig-Großzschocher: Dort tritt, ebenfalls mit
gelöstem Haar und grünem Kranz, die erst anderthalbjährige Christina Brandt von
Lindau, umrahmt von prächtiger Architektur und biblischen Bezügen, dem
Betrachter sogar wie eine kleine Erwachsene entgegen.
Beinahe völlig im Dunkeln liegen bisher
die Lebensverhältnisse von Laurentius Hartenberg. Wie neben dem bevorzugten
Begräbnisort auch der Titel „Herr“ ausweist, gehörte er nicht zur einfachen
Dorfbevölkerung. Vor allem das Holzepitaph mit seinem anspruchsvollen Latein
verweist auf einen humanistisch gebildeten Mann. Ob er in einem
Dienstverhältnis zum Pfarrer, zum Amt Schkeuditz oder zum Schloss stand, oder
ob er zusammen mit seiner Frau aus anderem Grund nach Hänichen beziehungsweise
Lützschena verschlagen worden war, ist trotz Nachforschungen vorerst nicht zu
klären. Wahrscheinlich kann hier nur ein Zufallsfund weiterhelfen.
Literatur: Ernst Moritz Reichel: Die Parochie
Lützschena und Hänichen mit Quasnitz, in: Kirchen-Galerie Sachsens. 10.
Abtheilung: Inspectionen Leipzig und Grimma. Dresden o. J [vor 1844], 70-75;
Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs
Sachsen. 16. Heft: Amthauptmannschaft Leipzig (Leipziger Land) / bearbeitet von
Cornelius Gurlitt. Dresden 1894, 52-54 (Hänichen); [beide Ausarbeitungen sind
nicht immer korrekt].
Gerhard
Graf, Kirchenhistoriker