Aus der Geschichte unserer Ortschaft 

Der Gemeindeanger zu Stahmeln

Als zu Beginn des 12. Jahrhunderts deutsche Ansiedler in das Sorbendorf „Stahmil“ kamen, haben sie vermutlich den freien Platz inmitten des Dorfes bereits in jenem Umfang vorgefunden, den er heute noch besitzt. Natürlich gehörten die nunmehr bebauten Flächen damals auch zu diesem Areal. Die Siedler nannten es, dem heimatlichen Sprachgebrauch gemäß, „Gemeindeanger“ (Anger = Wiese, Gemeindewiese). Jahrhunderte hindurch ist er der Mittelpunkt des Dorfes, der Versammlungs- und Festplatz. Hier tranken die Einwohner das Pfingstbier, hier tanzte die Jugend unter einer mächtigen Linde auf einem schnell errichteten Podest. Fröhliche Erntefeste beschlossen hier die Sommerzeit. 

Mit der Geburtsstunde der politischen Gemeinde, der Einführung der Landgemeindeordnung von 1838, änderten sich allerdings die Dinge. Der Anger bleibt bei den Bauern - den Nachbarn (1), wie sie sich nennen - als Altgemeindeeigentum. Über seine künftige Bewirtschaftung mögen sie wohl bedächtig beraten haben. Letztendlich entschließen sie sich für die Anpflanzung von Pflaumenbäumen, 1839 beginnen sie mit 25 Bäumchen. Seitdem heißt der Gemeindeanger im Volksmund „Pflaumenanger“. Es wäre ein guter Grund gewesen, diesen Namen bei der Eingemeindung von Lützschena-Stahmeln in die Stadt Leipzig wieder einzuführen. Unter anderem hat sich auch der Heimatverein dafür engagiert. Leider trafen diese Bemühungen auf taube Ohren. Die Stadt favorisierte den Namen “Stahmelner Anger“. Grund dieser Namensänderung ist die Festlegung, dass es in einem Stadtgebiet keine Namensdoppelungen von Wegen, Straßen und Plätzen geben darf, nicht zuletzt sei dies auch für die Orientierung der Rettungsdienste von Bedeutung.

Doch zurück ins 19. Jahrhundert. Nach altem Dorfbrauch legen die Nachbarn gemeinschaftlich Hand an. Wer nicht zur Arbeit erscheint, zahlt 6 Groschen „Fehlgeld“ zur Strafe. Mit der Zeit wird ihnen die Arbeit zu umfangreich. Das „Ausputzen“ der Bäume muss regelmäßig erfolgen, und auch das „Raupen“(2). Diese Arbeiten werden nun in Lohn vergeben. Wir erfahren aus alten Aufzeichnungen, dass der Anger 1842 eine Dornenhecke als Einfriedung erhält, die 1849 durch einen regelrechten Zaun ersetzt wird. Die Nachbarn Kaiser und Kunze errichten ihn in 3 Tagen für 22 Groschen und 5 Pfennige Lohn, und der Schmied Salzbrenner fertigt die Beschläge für die „Angertür“ an. Inzwischen ist die Zahl der Pflaumenbäume gewachsen, 3 Schock werden 1844 gepflanzt, die für 13 Taler und 4 Groschen in Großdalzig gekauft wurden, dann nochmals 1 2 Schock im Jahre 1852, und schließlich 1855 noch einmal 3 Schock. 1 Schock umfasste immerhin 60 Bäume.

Die Anlage erweist sich bald als rentabel. Die Pflaumen bringen ein schönes Stück Geld ein. Ab 1840 finden regelmäßig Pflaumenauktionen statt. Die Ankündigung erfolgt alljährlich durch die sogenannten „Pflaumenzettel“, die der Tagwächter (das ist der Gemeindediener) in den Schänken zu Wahren, Möckern, Lützschena, Quasnitz und Hänichen verteilt. Die Stahmelner Angerpflaumen waren bekannt und begehrt, erzählten unsere Altvorderen. Die Höchstgebote in den Jahren 1840-1860 liegen zwischen 13 und 100 Talern. Für die damaligen Verhältnisse sind das beträchtliche Summen. 1861 bis 1900 erbringen die Auktionen 600 bis 820 Mark. (3) 

Leider setzt nun allmählich der Verfall ein. Die Nachbarn werden immer weniger, den Bäumen mangelt es an Pflege; es gibt keine Nachpflanzungen mehr, und so sinken die Erträge von Jahr zu Jahr. Nach dem Ersten Weltkrieg steigen sie zwar noch einmal, aber bald werden astronomische Preise erreicht, bedingt durch die einsetzende Inflation. Ein Wertmesser ist das keinesfalls. Jene schlimmen Inflationsjahre werden ja nur noch bei jenem verschwindend geringen Teil unserer Mitbürger Erinnerungen wachrufen, die diese schwere Zeit bewusst miterlebt haben. 

Dann aber lässt sich die Sterbestunde des Stahmelner Pflaumenangers nicht mehr aufhalten. 1927 werden schließlich noch einmal 40 Goldmark vereinnahmt. Die alten und dürren Bäume werden nach und nach beseitigt. Am Ende liegt dann diese einst blühende Fläche im Ort kahl und verlassen da. 

Schon zu DDR-Zeiten sollte der Anger nach einem Bebauungsplan weiterhin erhalten bleiben. Bislang sind keine Änderungsbestrebungen dieses Vorhabens erkennbar. Allein diese Tatsache ist schon ermutigend. Möge der „Stahmelner Anger“ auch weiterhin in seiner Form fortbestehen, die dem historischen Charakter dieser Stätte entspricht. 

Klaus Karstedt 

Anmerkungen: 

(1)Die Begriffserläuterung „Nachbar“ erfolgt in einer der nachfolgenden Beiträge zur Ortsgeschichte. 

(2)Der Begriff „Raupen“ steht für die Vernichtung der Obstbaumschädlinge. 

(3)Umrechnung: Der deutsche „Münzvereinsthaler“ entsprach seit 1857 Drei Mark