Kürzlich wurde mir von einem Lützschenaer Bürger ein unansehnlicher Schnellhefter übergeben, der etliche Seiten vergilbten Papiers beinhaltet. Diese sind ein wahrer Schatz, sind sie doch Kopien eines mit der Schreibmaschine hergestellten Textes, der über die Vorgänge in der Gemeinde Lützschena im Zeitraum vom 18. April bis 9. Juni 1945 berichtet. Verfasser ist offenbar der erste Bürgermeister nach dem Kriegsende Willy Pietzsch, ein in Verwaltungsdingen nicht unerfahrener Mann, wie man beim Lesen leicht feststellen wird. Welcher Partei er angehörte, das lässt sich daraus nicht entnehmen, dass er von Genossen spricht, denn das tun bis heute Sozialdemokraten und Kommunisten nach wie vor. Das ist jedoch unerheblich, denn schließlich wird im Text erkennbar, dass es nicht um ein Parteiengezänk geht, sondern um die Sache, nämlich das Wohl der Bevölkerung im Ort. Allerdings ist nicht zu erfahren, zu welchem Zweck Willy Pietzsch 16 Seiten Papier beschrieb. Hatte er sich bei der Militärverwaltung für seine Amtsführung zu rechtfertigen? Oder musste er vor der Behörde im Landkreis Rechenschaft ablegen? Hatte er vor der Einwohnerschaft der Gemeinde über seine Arbeit und die nächsten Vorhaben zu sprechen? Letzteres könnte der Fall gewesen sein, betrachtet man die Unterstreichungen an verschiedenen Stellen.Bei der Abschrift habe ich mich an das Vorgefundene gehalten, weder einen Buchstaben noch ein Komma unterschlagen. Das erweckt vielleicht den Eindruck als stünde ich mit der heutigen Rechtschreibung auf Kriegsfuß, was aber nicht stimmt. Lediglich durch die Unterschiede bei der Schriftgröße kommt es zu einer anderen Aufteilung der Absätze als im Original. Dieses werde ich mit Zustimmung derer, die es mir überließen, dem Heimatverein Lützschena-Stahmeln e.V. zur dauerhaften Aufbewahrung übergeben, so dass jeder das gern nachprüfen kann. Wer weiß, wo heute noch solche Schätze schlummern! Die auszugsweise Veröffentlichung dieses Textes im "Auen- Kurier", sollte der Anlass sein, doch noch einmal nach Dokumenten, Fotos oder persönlichen Aufzeichnungen zu suchen und dem Heimatverein zur Verfügung zu stellen. Diese nimmt man dort gern entgegen, veröffentlich vielleicht auch einiges davon, denn sie sind geeignet, unsere Ortsgeschichte umfassender zu erkennen. Schließlich kann der Abdruck eine lebendige Diskussion auslösen, denn in dem Text sind Begriffe enthalten, die jüngere Menschen sicher nicht verstehen. Indem danach gefragt wird, können wir Älteren, die diese Zeit noch miterlebt haben, sicher die Fragen beantworten. In dem Sinne würde es mich sehr freuen, könnte der Bericht etwas in Bewegung setzen, was dringend gebraucht wird, um dem Neofaschismus wirkungsvoll entgegen zu treten. Horst Pawlitzky
Auszüge aus dem Bericht von Willy Pietzsch vom 9. Juni 1945
Die Schicksalswende unserer Gemeinde 6 Wochen Kommunalpolitik
Am 18. April, mittags 1/2 2 Uhr, hatte sich das Sehnen so vieler Lützschenaer erfüllt. Der Terror der Nazi´s war mit dem Einrücken der amerikanischen Streitkräfte gebrochen.
Wir alle, die 12 lange Jahre darauf gewartet und gelitten hatten, wollten gerade
aufatmen, da kam die erste Enttäuschung. Der alte Nazi-Häuptling Peter, der
Vandale, wie ihn seine eigenen Parteigenossen nannten, wurde weiterhin vom
Kommandanten der Amerikaner als Mittelsmann zwischen denselben und der
Einwohnerschaft bestellt.
Was war los? Im gleichen Augenblick, wo amerikanische Soldaten die Proklamation an
die Bekanntmachungstafeln schlugen, worin sie erklärten: `Wir kommen, um den
Nationalsozialismus zu vernichtenA, erlebten wir, daß über 70 Wohnungen der
Einwohnerschaft geräumt werden mußten. Daran war der ehemalige Ortsgewaltige
Peter nicht ganz unschuldig. Es wäre sicher möglich gewesen, nur Naziwohnungen
vorzuschlagen, wenn bereits ein anderer Einfluß, als der Peter´sche bestanden
hätte. Die Einwohnerschaft, die froh war, den Kriegseinflüssen und
Bombennächten entronnen zu sein, war beunruhigt und klagte.Dazwischen
kam noch eine Munitionsexplosion auf dem Lützschenaer Bahngelände, die einen
großen Teil unserer Häuser beschädigte. Wir alle hatten zu tun, um für unsere
Familie besorgt zu sein. Die meisten Frauen standen noch ohne Männer, die sich
noch bei der Wehrmacht befanden und ohne allen Schutz mit ihren Kindern allein
da. Eine Lähmung ohne-gleichen erfaßte uns alle. ...
Der Krieg war aus, unser Kampf begann.
Die alten Ortsgewaltigen waren noch am Ruder und rührten keinen Finger. Einige
Gesinnungsfreunde von mir, waren sich einig, nicht einzugreifen, da wir in den
Jahren nach 1918 schon einmal den Prügelknaben machen und unseren Einsatz mit
unserer Freiheit bezahlen mußten! Einige wenige aber rafften sich doch auf. ...
Am 20. April erschienen 5 Genossen (Zschau, Stichaner, Schulze, Schönfeld, Pekar)
in meiner Wohnung und forderten meine Beteiligung und meine Mitarbeit. Ich
hatte im Willen abzulehnen. Auch ich wollte mich keiner Politik mehr forderten,
eine Beteiligung und meine Mitarbeit. Ich hatte im Willen, abzulehnen. Ich
wollte mich keiner Politik mehr widmen. Ich habe mich dennoch überzeugen lassen
und wir erwirkten am 22.4.1945 vormittags eine Aussprache beim Kommandant
der amerikanischen Streitkräfte unter Führung unseres Freundes Fritz
Schulze. Wir wussten wohl, was wir riskierten. Den meisten unserer Einwohner
wird es erst dadurch zum Bewußtsein kommen, wenn wir ihnen heute sagen, daß in
Bitterfeld, also kaum 30 B 35 km in der Flanke von uns, noch gekämpft wurde.
Jede Stunde konnte ein zeitweiliges Rückgehen der Amerikaner einsetzen. Und die
Nazi´s waren noch am Ruder. Im gegebenen Moment hätten sie sich wahrscheinlich
bitter an uns und unseren Familien gerächt. ...
Nun, unsere Wünsche waren schnell unterbreitet: Die Übernahme der örtlichen
Verwaltung.
"In wessen Auftrag kommen Sie?" "Im Auftrag der antifaschistischen Bevölkerung!"
"Wer garantiert mir hierfür? Denn für mich ist jeder Deutsche ein Nazi!"
"Das ist nicht wahr; denn die Mehrzahl der Einwohner steht hinter uns!"
"Beweisen Sie mir das und bringen Sie mir von diesen Einwohnern die Erklärung!"
Und so zogen wir 6 Mann los. Bis anderen Tags, also am 23.4.1945 früh 10 Uhr
mussten wir dem Kommandanten so viel als möglich Unterschriften bringen. ...
Am 23. wurde unser Freund Schulze zum Kommandant vorgelassen, mit der Weisung,
noch mehr Unterschriften zu sammeln. Während dieser Arbeit wurde unser Schulze
Fritz in die Kriegsgefangenschaft entführt, da er noch keine Entlassungspapiere
der Wehrmacht in Händen hatte. Was nun?
Die angefangene Arbeit mußte weitergeführt werden. Das stand fest. Ein
anderer mußte in die Bresche springen, und dazu wurde ich von meinen Genossen
bestimmt.
Also ran an den Kommandant. Ich mußte mir nun einen Dolmetscher in der Person
des Gasthofwirtes Biedermann bestellen. Aber nur durch den Posten ließ der
Kommandant mit sich reden und uns Bescheid sagen. Es kam uns vor, als wollten
die Amerikaner unsere Aktion verzögern. Das war am 24.4.1945.
Am nächsten Tag sprachen wir wieder vor, mit dem Misserfolg, daß der Kommandant
keine Zeit habe, uns zu empfangen. Wir wurden auf den nächsten Tag 10 Uhr
bestellt.
Am 26.4.1945 dasselbe. Die Besatzungstruppe hatte Marschbefehl erhalten und
deshalb konnten wir nicht vorgelassen werden. Wenn wir benötigt würden, wollte
man uns rufen lassen. Wir gaben unsere Sache schon verloren und gingen
enttäuscht auseinander.
Aber der Kommandant hielt doch Wort. Gegen 1/2 12 Uhr mittags am 26.4.1945 wurde ich durch den
Adjutanten abgeholt, nach dem Gasthof Lützschena zum Dolmetscher Biedermann
gebracht und dort wurde mir nach nochmaliger Prüfung meiner Papiere meine Einsetzung
als Bürgermeister der Gemeinde Lützschena eröffnet. Ich war im Augenblick
sprachlos. Auf meine Frage, was denn nun mit Peter und Anhang wird, wurde mir
zur Antwort, daß sich Peter und Reckwitz bereits in Gewahrsam befände. Er
beauftragte mich, sofort die Übernahme der Gemeindeverwaltung zu starten
und ihm bis 2 Uhr darüber Bericht zu erstatten. ...
Um 1 Uhr erging an die Einwohnerschaft die erste Bekanntmachung über die Absetzung
des Bürgermeisters Häcker und dessen Stellvertreter Peter und die
Einsetzung des neuen Bürgermeisters Willy Pietzsch. Nach kurzer Beratung war
die Arbeitseinteilung vorgenommen und bereits am anderen Morgen 8 Uhr konnte
die Abwicklung der öffentlichen Angelegenheiten reibungslos weiterlaufen.
Was sich nun ergab, war ein gewaltiger Berg Arbeit, ein Hetzen und Jagen aller
Genossen, die sich keine Ruhe gönnten. Unermüdlich wurde geschafft, jeder gab
sein Bestes. Aber ein Mißstand trat grell zu Tage. Jeder glaubte sein
persönliches Süppchen kochen zu können. ...
Ausländer und Deutsche gingen weiter plündern. Man brach ab und raubte, was nicht niet-
und nagelfest war. Meine Verhandlungen mit dem Kommandanten und dem Landrat
begannen. Die Ernährungslage war uns das lebensnotwendigste. ...
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