Gasthof Lützschena vor dem "Aus"?
Optimisten haben vielleicht angenommen, daß die Gerüste am Gasthof auf den Beginn von Bauarbeiten zu seiner Sicherung und Renovierung hinweisen. Dem ist leider nicht so, denn diese Maßnahmen sollten bewirken, daß an dem unter Denkmalschutz stehenden und verfallenden Haus niemand einen Schaden erleidet. Jetzt hat sich das Leipziger Amt für Bau-ordnung und Denkmalpflege nach Auskunft seines Amtsleiters Herrn Schirmer dazu ent-schlossen, den Abriß in die Wege zu leiten, weil selbst bei bestem Willen eine Rettung des Gasthofs nicht mehr möglich ist. Da es sich aber um eine städtische Immobilie handelt, liegt die endgültige Entscheidung dazu beim Regierungspräsidium Leipzig. Dieses wiederum hat sie bislang nicht erteilt, weil angeblich ein Investor sein Interesse zum Kauf des Objektes ge-äußert hat. Mit solchen Anfragen muß man auch künftig rechnen, solange der Gasthof über eine Internetseite des Liegenschaftsamtes der Stadt zum Kauf angeboten wird. Ein Ende dieses langsamen Sterbeprozesses ist also noch nicht abzusehen. Trotzdem muß man sich an den Gedanken gewöhnen, daß er bald nicht mehr steht.
Fragt man Personen höheren Alters, die schon länger in Leipzig oder seiner Umgebung leben, nach Lützschena und seinem Gasthof, dann wird man oft erleben, wie sie mit leuchtenden Augen davon sprechen, welche Erlebnisse sie in ihrer Jugend hier hatten. Spielte in den Jahren nach dem Krieg im Saal an den Wochenenden die Dorfmusik zum Tanz, dann ging hier wirklich die Post ab, nahm so mancher Bund fürs Leben seinen Anfang. Daneben gab es Kulturveranstaltungen, Ausstellungen der Geflügelzüchter und regelmäßig wurde vom Land-film zu Kinovorstellungen für die Kinder eingeladen. Viele der jüngeren Lützschenaer gingen hier zur Jugendweihe oder hatten wegen der Schulraumnot zu DDR-Zeiten Unterricht in der zum Gasthof gehörenden Kolonnade. Später hatte hier auch die von Hilde und Kurt Nebrig betreute Gemeindebibliothek ihr Domizil, ehe sie in das Obergeschoß des Gasthofs umzog. Im Saal tagte der Gemeinderat und im Musikzimmer, ebenfalls im Obergeschoß, seine Aus-schüsse. Familienfeiern fanden hier statt, wohl auch deshalb, weil der langjährige Betreiber der Gaststätte Peter Pfefferkorn es trotz vielen Mangels in der DDR immer verstand, für das Speisenangebot seiner Küche oder zur Herstellung von kalten Platten besondere Leckereien aufzutreiben. Und wieviel Kinder haben auf dem Freisitz hinter dem Gasthof Kastanien ge-sammelt, die im Herbst von den Schatten spendenden Bäumen herabfielen.
Erbaut wurde der Gasthof im Jahre 1826 auf Veranlassung des Gutsbesitzers Maximilian Speck, nachdem die Straße von Leipzig nach Halle ihre jetzige Lage erhielt. Das Haus mit einer Nutzfläche von 1,238 m² besaß einen Saal, der bis zu 300 Personen Platz bot und in der zum Gasthof gehörenden Ausspanne konnten ca. 100 Pferde untergebracht werden. In der Gaststätte wurde einzig das in der Sternburg-Brauerei hergestellte Bier ausgeschenkt. Im Obergeschoß des Hauses befand sich ein Teil der Sternburg´schen Bildersammlung, ehe sie im Jahre 1834 in der eigens zu diesem Zweck erbauten "Villa Martha" untergebracht wurde. 1870 wurden die Kolonnaden an der Nordseite des Hofes errichtet. Einen Aufschwung in seiner Beliebtheit als Ausflugslokal für die Leipziger erfuhr der Gasthof im Jahre 1905, nachdem die Straßenbahn von Wahren nach Lützschena verlängert wurde und 1911 dann der restliche Teil der Strecke bis Schkeuditz hinzukam. Bis vor einigen Jahren noch befand sich die stadtauswärtige Haltestelle direkt vor dem Gasthof, so daß man aus der Bahn direkt in die Gaststätte fallen konnte.
Nach 1945 ging der Gasthof in das Eigentum der Gemeinde Lützschena über, die ihn später als Kulturhaus benannte und in einer Zeit, als das Fernsehen die Bürger noch nicht an ihre Wohnungen fesselte, auch weitgehend so nutzte. Mit den wenigen Eigenmitteln, die ihr zur Verfügung standen und mit Unterstützung der im Ort ansässigen Betriebe, besonders der Brauerei, war es 1964 gelungen, Renovierungsmaßnahmen in größerem Umfang durchzuführen. In der Gaststätte, die von der HO (Handelsorganisation) der DDR betrieben wurde, wirkte nach Abschluß seines Fachschulstudiums im Jahre 1959 der bereits erwähnte Peter Pfefferkorn als Leiter und Küchenchef. Seine Aufgabe war es, mit wenigen Mitarbeitern nicht nur die in der Gaststätte benötigten Speisen zuzubereiten, sondern auch die Versorgung der Kindereinrichtungen, der Rentner und Angehörigen der Gemeindeverwaltung sicherzustellen und an den Wochenenden für die Schichtarbeiter der Brauerei und in der Erntezeit für die Bauern der LPG in Gundorf zu kochen.
Nach 1989 ließ der Gemeinderat vorzugsweise in das Bürgerhaus investieren, so daß für den Gasthof wenig übrig blieb. Herr Pfefferkorn, der ab1990 die Gaststätte in eigener Regie weiterführte, hatte deshalb zunehmend mit Schwierigkeiten zu kämpfen. So wurden Räume im Obergeschoß und der Saal für Tanzveranstaltungen wegen baulicher Mängel gesperrt, in die Küche regnete es durch das Dach herein, was die Hygiene auf den Plan rief. Es wurden Forderungen gestellt, die Herr Pfefferkorn mit seinen eigenen Mitteln nicht erfüllen konnte. Das führte dazu, daß er sein Geschäft aufgab und der Gasthof am 16.01.1996 endgültig geschlossen wurde. Seither verfällt er immer mehr, hat unter Vandalismus zu leiden bis hin zu einer Brandstiftung in der Kolonnade.
Nun ist kaum noch damit zu rechnen, daß das Grundstück Hallesche Straße 116 mit dem Flur-stück 68 a (3.357 m²) und dem Gasthof in seinem jetzigen Zustand verkauft werden kann, der Abriß der Gebäude unausweichlich ist. Es bleibt nur zu wünschen, daß nach Verschwinden dieses Schandflecks im Ortsbild an seiner Stelle eine attraktive Grünanlage unter Einbezie-hung der Kastanien auf dem Hof entsteht, die aber eines hoffentlich nicht so fernen Tages einen Neubau aufnimmt, der in seiner Gestalt an den früheren Gasthof erinnert und einen Saal umschließt, den unsere Ortschaft nach dem Verkauf des Bürgerhauses so dringend braucht.
Horst Pawlitzky